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0102 Kunstgeschichte der Seidenweberei : vol.2
Kunstgeschichte der Seidenweberei : vol.2 / Page 102 (Color Image)

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doi: 10.20676/00000240
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VII. Die Seidenweberei des späten Mittelalters

von 1300-1500.

A. Die Entstehung des spätmittelalterlichen Seidenstils durch das
Zusammenwirken der Gotik und der chinesischen Kunst.

Während der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts hatte der Siegeszug der Gotik auch die gewerblichen Künste Schritt für Schritt dem neuen Stil der germanischen Völker des Abendlandes gewonnen. Italien folgte zögernd dem Vorgang des Nordens; um 1300 jedoch lenkt auch das italienische Kunsthandwerk ins gotische Fahrwasser ein. Gleichzeitig mit dieser stärksten Umwälzung in der christlichen Kunst des Mittelalters, und sicherlich nicht unberührt von den darin wirksamen Kräften, vollzieht sich in der Seidenweberei Italiens ein Stilwechsel einschneidendster Art. Unmittelbar nach dem Jahre 1300 kommt in den Seidengeweben von Lucca und Venedig — andere Betriebsorte sprechen in dieser Zeit noch nicht mit — eine neue Ornamentik zum Vorschein, die einen vollständigen Bruch mit den Überlieferungen des hohen Mittelalters bedeutet.

Das Knochengerüst des älteren, letzten Endes auf den alexandrinischen Geweben des 6. Jahrhunderts beruhenden Seidenstils, die Flächengliederung durch einrahmende Kreise oder sonstige festumgrenzte Felder, wird gänzlich beseitigt. In freier Anordnung verteilen sich nun die Motive ungerahmt über die Fläche, immer in Reihen gegeneinander verschoben, damit nie gleiche Darstellungen grade übereinander zu stehen kommen. Noch bleiben die Tierbilder das vorherrschende Element ; aber ihr Wesen hat sich von Grund auf geändert. Sie werden naturähnlich gezeichnet und an Stelle des tatlosen Gegenüberstehens und der flächenhaften Heraldik tritt das bewegteste Leben. Zahmes Getier und reißendes Wild in Kampf und Verfolgung, Vögel und Vierfüßler, Fische und Fabelwesen, alles rennt, fliegt und stürmt gegeneinander, angreifend, flüchtend oder sich bedrohend (vgl. T. 168, 170, 171a, 172, 173, 197). Dem neuen Zug zur Bewegtheit und Ungebundenheit wird die Symmetrie bald unbedenklich geopfert; es gibt viele Seidenmuster des 14. Jahrhunderts, welche die Unsymmetrie zum Grundsatz machen und die unvermeidliche Wiederkehr des Rapports durch geschickte Gruppierung unpaariger Motive zu verbergen suchen. Das Pflanzen: ornament unterliegt gleichfalls dem Naturalismus. Nicht, daß es nun keine stilisierten Ranken, Blätter, Palmetten mehr gäbe; aber neben ihnen erscheinen einseitig gekrümmte Bäume mit windbewegter Krone, mit knorrigen Aststümpfen und blühenden Zweigen, aus umzäunten Gehegen, Felsen oder einem bachumrauschten Erdstück emporwachsend (vgl. T. 176, 179, 184, 188).

Hand in Hand mit diesen Wandlungen geht eine gewaltige Bereicherung des Motiven, schatzes. Mit den Tieren und Pflanzen verbinden sich Burgen und Brunnen, Schiffe und Zelte, Jägerinnen und Jagdgeräte, Felsen und Gewässer, flatternde Schärpen und Bandrollen mit pseudoarabischer Schrift, strahlende Mondsicheln und Wolken zu freien, oft ganz land, schaftlichen Mustern von kaum übersehbarer Mannigfaltigkeit. So unerschöpflich strömt die Erfindung, so meisterhaft ist fast durchweg die Zeichnung, daß diese Gewebe immer

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