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0558 Aus Siberien : vol.1
Aus Siberien : vol.1 / Page 558 (Color Image)

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doi: 10.20676/00000224
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Nachbaren zu verletzen. Der Besitzstand der Kirgisen, das Vieh, fordert zu seinem Gedeihen eine bestimmte Quantität Gras; ist dieses Quantum nicht vorhanden, so geht das Vieh zu Grunde, ohne dass die Speculation oder Thätigkeit des Besitzers im Stande ist, diesem Uebelstande abzuhelfen. Das Gedeihen und Missrathen des Viehes ist also von der Thätigkeit des Besitzers unabhängig, und zwar schliesst der Verlust des Viehes eine Vernichtung der socialen Bedeutung des Besitzers in sich, die ihm unwiederbringlich die Möglichkeit raubt, je wieder die verlorene Stellung einzunehmen ; der arm gewordene Kirgise verkommt als Einzelwesen unbedingt. So ist, um ein Beispiel zu geben, oft die Witterung schuld, dass ganze Districte ihren Viehstand einbüssen. Wenn im Frühjahr nach dem ersten Thauwetter plötzlich starker Frost eintritt und die dünne Schneeschicht sich in einer Nacht mit einer zolldicken Eiskruste bedeckt (diese Witterungserscheinung nennen die Kirgisen „ujut"), so ist das Vieh nicht im Stande, das Gras aus dem Schnee zu scharren und der Besitzer hat keine Möglichkeit, für seine Heerde auf irgend eine Weise das nöthige Futter herbeizuschaffen ; dann fallen oft, wenn die Kälte länger anhält, in wenigen Wochen Hunderttausende von Stücken Vieh, und ganze Districte, die in grossem Reichthume lebten, werden plötzlich arm, ja fast vollständig besitzlos (wie dies z. B. im Jahre 1861 im Karkaralinskischen Kreise der Fall war). Hier kann keine noch so angestrengte Thätigkeit den Besitz des Volkes heben, der Betroffene kann entweder nur rathlos die Hände in den Schools legen und sich vollkommen dem Schicksal überlassen, oder durch einen Einbruch in das Besitzrecht des Nachbars, durch Verletzung des Eigenthumrechtes sich die Möglichkeit der Verbesserung seiner Lage selbst schaffen. Sobald das Ujut eintritt, verlassen die Kirgisen ihre Wohnsitze und dringen in das Gebiet der Nachbaren vor und zwar so lange, bis sie zu einer Stelle gelangen, wo sie Futter für ihre Heerden finden. Gelingt ihnen dies, so ist wenigstens ein Theil ihres Viehstandes gerettet; dann kehren sie nach Eintritt des Witterungswechsels mit den Ueberresten ihrer Heerden wieder in ihre alten Wohnsitze zurück. Stirbt aber ihr Vieh aus, so müssten sie verhungern, wenn sie sich nicht auf -den reichen Nachbar stürzen und ihm einen Theil seines Viehstandes mit Gewalt entreissen wollten, der jetzt bei ihnen die Grundlage für einen neu erwachsenden Viehstand bilden