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0273 Meine Tibetreise : vol.2
Meine Tibetreise : vol.2 / Page 273 (Color Image)

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doi: 10.20676/00000264
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  1. Juni. Das Wetter blieb regnerisch wie die ganzen Tage zuvor. Wir mußten einen vollen Tag die Zelte hüten. Schnee und Regen peitschten ohne Unterlaß gegen meine Baumwollstoffwände. Wir waren in eine dichte Nebelwolke gehüllt und kein Fleckchen in meinem Zelt blieb trocken. Die Soldaten verschwanden endgültig, über die Kälte und meine Reise schimpfend und fluchend. Erst nach acht Tagen ließen sie sich wieder zum Empfang ihres Trinkgelds bei mir sehen.

  2. Juni. Die große Straße, die von Ta tsien lu nach Tai Hing führt, geht östlich des hohen Dschara re über einen nicht gar hohen und mäßig steilen Bergpaß, den die Chinesen wegen eines kleinen Paßsees den „Hai tse schan" nennen. Unterhalb dieses Passes haben sie ein Rasthaus gebaut, „neue Herberge" (hsin dien) benannt. Das Haus zeichnet sich dadurch aus, daß man darin immer ein offenes, wärmendes Feuer und warmen Rauch findet. Der Wanderer aber, der nicht für die gedämpften faden Maiskuchen schwärmt, sucht dort vergebens nach einer Stärkung.

Um von hier aus nach Kin tschuan zu kommen, hat man an der „hsin dien" rechts abzubiegen und die östliche Bergkette zu überschreiten. Dieser zweite Paß führt den Namen „Da po schan", etwa als „Berg mit dem groBen Anstieg" zu übersetzen. Er führt auf eine Einsattelung von 4370 m hinauf und ist auf seiner Westseite, die gegen „hsin dien" abfällt, außerordentlich steil. Wir hatten vom Tage vorher 50 cm Neuschnee dazu bekommen — ich war hier baB verwundert über die groBen Schneemengen, die in diesen Breiten das Frühjahr bringen konnte. Um die Höhendifferenz von 700 m zu überwinden, brauchten wir fast den ganzen Tag und Mensch wie Vieh kam in völlig erschöpftem Zustand oben an.

Am Da po schan erlebte ich zum ersten Male seit vielen Tagen einen strahlend klaren Morgen, und mit jedem Schritt, den wir uns durch den tiefen Schnee aufwärts gepflügt hatten, entrollte sich drüben über der Tai hing- Straße ein schöneres Alpenpanorama (s. Bd. I, Tafel XLIV). Aus dem breiten, schwarz und schneelos heraufgähnenden Trogtal, das schnurgerade von „hsin dien" nach Ta tsien lu hinabläuft, hoben sich zahllose Schneegipfel, glitzernde Firnfelder und kühne Felsgrate und ragte als höchste alpine Majestät der heilig verehrte Dschara re. Mattes, graues, hartes Gletschereis ließ sich sogar unter dem Schnee in den höchsten Talenden entdecken. Die Gletscher sind freilich auch hier nur mehr Gletscherchen und wie in unseren heimischen Alpentälern bloß die schwächlichen Rudimente von kraftstrotzenden Eismassen, die einst die Gebirgsklötze in ihre heutigen groBen Umrisse umformten und die den Tälern die für Herden- und Menschenpfade leichter begehbare U- Gestalt gegeben haben.

Hinter dem Da po schan führt der Weg bald in dichten Rhododendronbusch und zu einer breiten amphitheatralischen Talform. Rasch folgt jedoch dann ein steiler eingeschnittenes Tal mit Hochwaldstämmen. Am ersten trockenen Plätzchen, wo etwas Gras für die Tiere uns einlud, schlugen wir Lager. Kaum war abgeladen, schlief ich vor Müdigkeit ein, denn wir alle hatten mit voller Kraft den Tieren helfen müssen, die Lasten durch den Schnee zu schaffen. Als ich nach nicht gar langer Zeit wieder erwachte, quälte mich ein heilloser Schmerz in beiden Augen, der mir keine Ruhe mehr ließ. Die Diener sagten, es sei noch immer Tag und die Sonne stehe hoch am Himmel, für mich aber war es Nacht. Ich war so vollkommen schneeblind geworden, daß ich selbst mit der größten

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