National Institute of Informatics - Digital Silk Road Project
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Meine Tibetreise : vol.1 |
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ich den Umweg über den Si ni ts o gemacht, hatte ich allerdings die „Tala" nicht an ihrer größten Breite angefaßt. Die Leute wurden ihrer Sache so sicher, daß sie, ohne mich erst zu fragen, den Wasservorrat bis auf wenige Schluck aufbrauchten. Über die Hälfte eines Schlauches ging beim Waschen der Kochgeschirre verloren. Nach einer unruhigen Nacht — wir wurden dreimal durch ein Rudel Wölfe belästigt, die uns so menschenähnlich anheulten, daß wir jedesmal an einen Räuberangriff dachten — war die Karawane am Morgen des 4. Mai schon kurz nach fünf Uhr weitergezogen. Ich ließ diesmal die Morgenkälte ausnützen. Um fünf Uhr zeigte das Thermometer — 7,5 ° C. Wir marschierten ohne Unterbrechung bis halb ein Uhr mittags, dann las ich + 14,2 ° C. am Aßmann ab und bei den Tieren, die alle noch ihre dichten und langen Winterhaare trugen, war eine so allgemeine Erschlaffung eingetreten, daß an einen Weitermarsch nicht mehr zu denken war. Mehr als ein Dutzend Ochsen konnte den Lagerplatz nicht erreichen und sämtliche Pferde mußten noch einmal zurückgesandt werden, um liegengebliebene Lasten zu holen. Erst um Mitternacht gelangten die ermatteten Tiere unter der Leitung von Inn und Me ins Lager. Als es bei Sonnenuntergang endlich klar wurde, erschienen die Gipfel des Semenowgebirges noch um keinen Schritt näher als den Abend zuvor. Nur ein steil aufsteigender Kegel, direkt im Süden, hatte sich jetzt von der übrigen Bergmasse losgelöst und bewies uns unseren Fortschritt. Keck und dräuend streckte der zackige Berg sein schwarzes Haupt aus den gelben Sandmassen, die seinen Fuß eng umschlungen hielten. Nach seinem ganzen Aufbau und Charakter war er grundverschieden von den dahinterfolgenden mauerartigen Gebirgsketten. Es war der „Amne Bayan", der „reiche Bergvater", der heilige Berg dieser Gegend, ein Riese, der unfern vom Hoang ho Wache hält und un- ermeßliche Schätze in seinem Innern bergen soll, von denen sich die Umwohner Sagen erzählen. Er liegt weit vor dem Semenowgebirge inmitten von Treibsandmassen. Eine winzige Quelle soll sich dort finden, die den Pilgern zur Labung dient, auch von einem heilig gehaltenen Hain, den die Tibeter ängst- lich hüten, wurde mir erzählt, endlich von einem Tempel, den zeitweilig Lamaeremiten bewohnen. Als wir am Abend unseren Tee einnahmen — es reichte nur noch eine Tasse für jeden — da gab es eine lange und lebhafte Debatte, ob der Berg uns gefoppt habe oder nicht. Die Kue de-Mannschaft behauptete es ganz bestimmt, denn der Berggeist tue dies sehr gerne und gestern seien wir doch sicherlich ebensoweit gewesen wie beute. Die Leute saßen sehr kleinlaut um das Lagerfeuer und beteten unausgesetzt. Der Tod des Kranichs mußte wieder herhalten. Tsch`eng, der Schuhmacher und Mundschenk, der gleichzeitig der Hohepriester meiner Buddhisten war, griff, um den Geist zu befriedigen, zweimal mit dem großen Teeschapf in den Kessel und schleuderte den Inhalt unter Anrufung des Amne Bayan hoch über unsere Köpfe in die Luft. Erst nach dieser ausgiebigen Libation goß er jedem seinen kleinen Teil in den vorgehaltenen Becher. Die Nacht über war der Himmel bedeckt und darum sank das Thermometer nur bis — 1° C. Es gab die gewöhnlichen Intermezzi : um elf Uhr fand ich Sung und um zwei Uhr Tschang auf Posten schlafend. Die Hunde wurden mehrmals sehr unruhig und rannten wutentbrannt in die Steppe hinaus. Wir konnten jedoch nie herausbringen, was los war. Wir nahmen uns vor, von jetzt an 301 | ||||||||
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