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0164 Meine Tibetreise : vol.2
Meine Tibetreise : vol.2 / Page 164 (Color Image)

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doi: 10.20676/00000264
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daß die Ehe mit der ersten Frau dadurch aufgehoben wird. In diesen Ausnahme-

fällen sah ich zweimal, daß die zweite Frau eine Schwester der ersten war.

Der Überschuß an unverheirateten Frauen, der überall in Tibet, besonders

aber bei den KCamba besteht, unterstützt natürlich weiter eine leichte Auf-

fassung von Moralbegriffen. Eine tibetische Familie findet sich rasch damit

ab, wenn eine Liebschaft einer Tochter Folgen hat. Kann oder will der junge

Liebhaber die Tochter nicht ehelichen, so muß er ein Rind und ein Schaf be-

zahlen und so lange der Familie unentgeltlich dienen, bis die Tochter wieder

eine volle Arbeitskraft geworden ist. Sie ist auch weit davon entfernt, ihre

Aussichten auf eine gute Partie verscherzt zu haben. Wenn man die weibliche

Zurückhaltung von anderen asiatischen Plätzen gewöhnt ist, staunt man über

den offenen Verkehr der jungen Leute beiderlei Geschlechts. Sie treffen sich

oft und singen und scherzen zusammen. Allzu schlimm aber — wie es sich

manche Europäer dachten — steht es doch auch in Tibet nicht mit der Moral.

Es wird nur wenig schlimmer sein als bei uns in Europa auf dem Lande oder

gar in den großen Städten. Der Tibeter ist im allgemeinen nicht sehr heiß-

blütig. Es ist dies vielleicht eine Folge des Lebens in den großen Höhen, der

Kälte und der mageren Kost. Äußerlich zeigt dies schon die große Anzahl

Männer, die sich in ihren besten Jahren in ein einsames Kloster oder gar in eine

Bergeinsiedelei zurückziehen. Die Klöster aber sind beileibe nicht d i e großen

Lasterhöhlen, als die sie von Leuten geschildert wurden, die oft kaum eine

Stunde lang in einer tibetischen Klostergasse lustwandelten, um darauf ein

ganzes Buch über das betreffende Heiligtum zu schreiben. Bedenkt man, daß

die Klosterbehörden nie einen Knaben, der nicht kräftig gebaut ist, als Novizen

annehmen, daß in größeren Klöstern Hunderte von ausgesucht gesunden

Burschen hausen, so muß man noch staunen über die Zucht und Ordnung.

Der Überschuß an unverheirateten Frauen ist unleugbar vorhanden. Höchst-

wahrscheinlich ist daneben aber die absolute Zahl der Frauen weit geringer

als die der Männer, denn wir zählen zahllose Männerklöster mit Dutzenden,

ja oft Hunderten von männlichen Insassen. Wir finden die Vielmännerehe als

die Norm aller Besitzenden. Die Zahl der unverheirateten Frauen, der ledigen

Tanten, müßte doch danach sehr groß sein. Ich sah aber immer nur wenige

oder gar keine in den Familien, die ich kennen lernte. Auch Frauenklöster sind

recht spärlich vorhanden, so daß nicht eine Nonne auf sechs Mönche kommen

wird. Dabei ist Mädchenmord bei den Tibetern selbst da unbekannt, wo, wie

im Osten, die chinesische Einwanderung besteht; er widerstrebt allzusehr den

buddhistischen Ideen.

In ganz K`am und so auch in Tschendu fand ich es sehr schwierig, meine

hungrige Karawane satt zu bekommen. Die Familien hatten nur ganz wenig

Wildheu gesammelt, das gerade für ihre eigenen Kühe ausreichte. Wo die

K`amba heuen, tun sie es immer erst im Herbst, wenn das Gras reif und gelb

wird. Ich konnte darum in Tschendu nur leeres Gerstenstroh kaufen und auch

dies nur in ungenügender Menge. Als Kraftfutter wurde mir endlich am zweiten

Tage etwas Gerste abgegeben, aber auch nur in kleinen Quantitäten. Der

Scheffel, den die Leutchen zum Abmessen benützten, war so groß wie eine

Teetasse, und die Verkäufer ließen sich nicht bewegen, zu einem größeren Maß

überzugehen. Und wenn man ein Scheffelchen in meinen Sack geschüttet hatte,

streute man wieder ein paar Körner in das Scheffelmaß, um es j a nicht leer in

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